Donnerstag, 24. Dezember 2015

Im Land der Dichter und Spinner

Wer dauerhaft in einer geschlossenen Anstalt lebt, kann keine allzugroßen Aussagen über den Grad seiner Verrücktheit machen, vorausgesetzt ihn interessiert das überhaupt und er würde sich um eine möglichst objektive Einschätzung bemühen. Wer sein Bezugssystem niemals verlässt, hat schlichtweg keine Vergleichsmöglichkeiten. Das kann ihn einerseits vor den Anforderungen der Realität schützen und ihm eine Gesellschaft, die ihn stigmatisieren würde, vom Leib halten. Andererseits fehlen im dadurch Wachstumsanreize und das Gefühl trotz seiner Andersartigkeit dazuzugehören. Das Ausmaß seines kognitiven Defizits wird er niemals vollständig erfassen können.

Ich will nicht behaupten, dass wir in einer verrückten Gesellschaft im psychiatrischen Sinne leben. Aber genaugenommen sind die Menschen mit psychopathologischen Auffälligkeiten um uns Legion. Die Psychopathologie der Mentalität dieser geschlossenen Gesellschaft ist offensichtlich: Ein Jeder kann wie sein Nachbar sein – ohne, dass ihre gemeisame Mentalität, die kollektive Psyche 
gesund ist.

Ist euch schon mal aufgefallen wie zermürbt oder gelangweilt die Menschen sind? Wie träge sie sich bewegen, wie depressiv sie wirken oder tatsächlich sind. Die Depression, als das „Gefühl der Gefühllosigkeit“, als fehlende emotionale Schwingunsfähigkeit scheint sie auszumachen. Die Menschen hierzulande scheinen chronisch depressiv zu sein. 

Während Trauer ein Gefühl voraussetzt, scheint unseren Nachbarn dieses Gefühl „traurigerweise“ abhanden gekommen zu sein. Nicht weil ich ihnen eine Traurigkeit zumuten wollte, sondern weil die Fähigkeit zu trauern ein gesundes Seelenleben ausmacht. Denn wer traurig ist, tut etwas dagegen – es sei denn er ist ein Opfer der „erlernten Hilfslosigkeit“. 

Der Depressive dagegen ist gelähmt, erstarrt, er kann nicht mal sagen, was ihn „berechtigterweise“ bedrückt. Eine sinnlose Schuld belastet ihn – für Getanes und nicht Getanes. 

Ich weiß nicht, ob es in Ländern mit mehr Herzlichkeit – leidergottes gehört Deutschland nicht dazu! – weniger Depressive gibt. Aber es ist Fakt, dass lebensbejahende Einstellungen, soziale Kontakte, Gastfreundschaft, stärkere Familienbanden und nicht zuletzt der Glauben, das Risiko für Depressionen verringern. 

Andererseits wird der Leidensdruck eines Depressiven in einer Gesellschaft, in der Emotinalität offen ausgelebt wird, größer sein: Wer dort affektiv nicht schwingungsfähig ist, wird schneller auffallen als in Deutschland, wo er einer von vielen ist und viele ohnehin ein Seelenleben führen, das der Depression nahekommt. Hier sind soziale Anforderungen traditionell niedrig gehalten, so wird der Depressive nicht ins Auge stechen. Nur wenn Eigenbrötler hierzulande nicht Legion wären, würde er als „Alleinstehender“, denn die Krankheit dazu gemacht hat, auffallen und somit zusätzlich isoliert werden. 

In Ländern, in denen die Depression keine Volkskrankheit ist, ist es verständlicherweise schwieriger diesen Zustand, der für Schwäche gehalten wird, vor anderen zu verbergen. Der Leidensdruck einer schweren Depression wird in Tibet, am „glücklichsten Ort der Welt“, größer sein - ihn mit Würde zu ertragen schwieriger sein als mitten in Deutschland. Natürlich vorausgesetzt, dass wir es in Tibet mit genauso verständnislosen Menschen wie Deutschland zu tun haben, was ich bezweifle.

Allerdings steigt die Zahl der sich krank fühlenden Menschen, sobald man der betreffenden Krankheit einen Raum schafft, in dem sie die Symptome sozusagen frei ausleben dürfen. Ist der Raum durch eine medizinische Diagnose erst einmal abgesteckt, fühlt sich mancheiner in ihr recht wohl und zu recht. 

Vielleicht sollte man therapeutische Pilgerfahrten, Kurreisen nach Deutschland anbieten. Die Idee dahinter ist folgende: Es geht darum dem Depressiven ein Umfeld zu ermöglichen, das seinen tristen Seelenlandschaften sehr nahe kommt. Darum den zeitweilig Depressiven, aus den emotional überschäumenden, anstrengenden Seelenlandschaften seiner Heimat zeitweilig zu befreien - er ist schließlich überfordert.

Die Mentalität des Verdrängens und des Ignorierens in Deutschland kommt seiner kranken Teilnahmlosigkeit recht nahe. Diese "coole" Seite im menschlichen Umgang entlastet ihn ungemein. Hier ist er zu Gast bei Freunden. Der soziale Erwartungsdruck ist hier nicht ausgeprägt. Anspruch am Seelenleben der anderen hat hier niemand, alles ist hermetisch abgeriegelt. Die Leuten schauen schließlich durch ihr Schlüsseloch, bevor sie sich in das Treppenhaus trauen. Wer will schon seine Nachbarn zu Gesicht bekommen?

Im Land der zugefrorenen Seelenlandschaften kann sich jeder eine zeitlang gehenlassen und nicht viel falsch machen. Wenn aber seine Verstimmung abklingt, muss er die "Geschlossene" schnellstmöglichst verlassen, falls er keine bleibenden Schäden davontragen möchte.

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